Freie Universität Berlin
Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften
Übung:  Soziologie des Internets 15654
SoSe 2002
Dozent: Heinz Gralki
Referent: Kurt Dutz

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Emile Durkheim:
(1858 -1917)

Die Regeln der soziologischen Methode

Voranstellen / Klärungsbedarf erfragen:

Francis Bacon 1) (1561-1626) / Rene Descartes 2) (1596-1650) / Induktion / Deduktion

Rückgriff auf Kapitel Eins: Das Selbstverständnis Durkheims als Wissenschaftler:

"In Wahrheit gibt es in jeder Gesellschaft eine fest umgrenzte Gruppe von Erscheinungen, die sich deutlich von all denen unterscheiden, welche die übrigen Naturwissenschaften [!!!] 3) erforschen."

Zur Erinnerung:

Soziologische Tatbestände: Pflichten und Verbindlichkeiten gegenüber der Gesellschaft, die außerhalb der Person und Sphäre individuellen Willens in Recht und Sitte begründet sind. Objektiv, da nicht vom Individuum geschaffen sondern im Wege der Erziehung übernommen. Arten des Handelns, Denkens, Fühlens die außerhalb des individuellen Bewusstseins existieren.

Zusammenfassung des zweiten Kapitels:

Regeln zur Betrachtung der soziologischen Tatbestände

Im zweiten Kapitel befasst Durkheim sich mit den Regeln, nach denen diese Tatbestände wissenschaftlich zu untersuchen sind, und der Darlegung seiner Auffassung von Wissenschaft.

1. Erste und grundlegende Regel

"Die erste und grundlegende Regel besteht darin, die soziologischen Tatbestände als Dinge zu betrachten."

2. Bedeutung des wissenschaftlichen Begriffs

Das Nachdenken über die Dinge, unter denen der Mensch nicht leben kann, ohne über sie nachzudenken, geht der Wissenschaftlichen Betrachtung voraus, allerdings fehlt noch die Methode.

Zur wissenschaftlichen Betrachtung ist es unabdingbar, die Dinge, die uns, durch mehr oder weniger nebulöse Begriffe verschleiert, normalerweise als Erscheinungen entgegentreten, von allem ideologischen Ballast zu entkleiden um sie als das zu sehen, was sie sind und nicht als das, was wir uns unter ihnen vorstellen.

Man könnte es auch so formulieren: Unsere Begriffe (von Dingen) sind Vorurteile, was wir aber zur wissenschaftlichen Arbeit benötigen, sind Urteile. D.h. zur wissenschaftlichen Bestimmung eines Phänomens benötigen als Werkzeug, den vorurteilslos und exakt definierten Begriff, der ggf. geschaffen werden muss. Einen Begriff, der keinen Raum für willkürliche Interpretation lässt.

Vorstellungen können nützlich sein und haben praktischen Wert, verschleiern aber "die Gesetze der Wirklichkeit".

Durkheim verweist hier auf Francis Bacons "Novum Organon", und dessen Idolenlehre, eine der Grundlagen neuzeitlicher Wissenschaft. "notiones vulgares" "praenotiones 4)".

In der Sozialwissenschaft besteht, wie Durkheim meint, nach wie vor die Gefahr "Idolen" anzuhängen, da Begriffe wie Recht, Moral, Familie, Staat, Gesellschaft subjektiv vorgeprägt (gewertet) sind. Der Wissenschaftler aber muss sich diesen Begriffen als Dingen, über die er eigentlich nichts weiss, vorbehaltlos nähern um ihr eigentliches Wesen erkennen zu können.

3. Fehler bisher betriebener Soziologie.

Die bisherige Soziologie hat mehr oder weniger ausschließlich von Begriffen und nicht von Dingen gehandelt. Zwar hat Comte implizit den dinglichen Charakter erkannt und ausgesprochen, indem er feststellte, dass soziale Erscheinungen "Naturtatsachen und folglich Naturgesetzen 5) unterworfen" seien, diese Erkenntnis aber nicht konsequent angewandt. (man könnte sagen, er war nicht in der Lage sie unabhängig von seiner eigenen Sozialisation und der damit verknüpften Ideale [Werteskala] zu betrachten, seine Vorurteile nicht ablegen.)

Insgesamt ist der ideologische Charakter in der Soziologie noch weit verbreitet (Ethik, - Recht, werden als Ideen erörtert, nicht als das was sie an sich sind. Nationalökonomie: Die Gesetzmäßigkeit des "Gesetzes von Angebot & Nachfrage" wurde nie empirisch nachgewiesen, "Wert" nie klar definiert - es bleibt bei der Vorstellung, dem Idol.).

4. Was ist ein "Ding"?

Was ein Ding ist, definiert Durkheim wie folgt:
  • Dinge sind alles was gegeben (dare, do, dedi) ist, sich der Betrachtung anbietet bzw. ihr aufdrängt.
  • Erscheinungen entsprechen Dingen, sind also "data" (Gegebenheiten) und damit Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Untersuchung, aber nicht die Auffassungen hierüber, sondern nur tatsächlich bestimmende Regeln sind Untersuchungsobjekte.
  • Die sozialen Erscheinungen müssen also in sich selbst, losgelöst von bewussten Subjekten betrachtet werden; von außen, als Dinge der Außenwelt.
  • "Der konventionelle Charakter einer Sitte oder Institution, darf niemals vorausgesetzt werden."
  • Erkennbar ist ein Ding daran, dass es durch einen blossen Willensentschluss nicht veränderlich ist. Es setzt dem Versuch es zu ändern, Widerstand entgegen. Soziale Erscheinungen besitzen diese Eigenschaften. Durkheim:"Weit entfernt davon, Erzeugnis unseres Willens zu sein, bestimmen sie ihn von außen her." und: "Soweit wir soziale Erscheinungen als Dinge betrachten, passen wir uns ihrer Natur an. Auch hier folgt Durkheim Francis Bacon, der erklärt hatte, dass man, wenn man die Natur beherrschen wolle, sich ihr zuerst unterwerfen müsse.
  • Weitere Erklärung (im Schlusskapitel des Buches): "Ein Ding ist eine Kraft, die nur durch eine andere Kraft erzeugt werden kann." Es unterliegt folglich dem Kausalitätsprinzip.
  • 5. Von der Vorstellung zum Ding - Die Methode

    Grundlage jedes wissenschaftlichen Verfahrens ist notwendig, dass alle Vorbegriffe systematisch ausgeschaltet werden.

    Desweiteren sollen keine unwissenschaftlichen (Vulgär)Begriffe Verwendung finden, da diese emotional besetzt sind, was die Gefahr der Parteilichkeit mit sich bringt. Mytizismus aber, "...kann nur Geister befriedigen, die mehr mit ihrem Gefühl, als mit dem Verstande denken." Gefühl ist aber Gegenstand der Wissenschaft, kein Kriterium wissenschaftlicher Wahrheit.

    Jede wissenschaftliche Untersuchung bezieht sich auf eine Gruppe von Erscheinungen, die ein und derselben Definition entsprechen. Folglich muss der erste Schritt darin bestehen, dass der Soziologe die Dinge, die er behandelt definiert, damit man weiss um welches Problem es geht. Das ist die erste und unumgängliche Voraussetzung jeglicher Beweisführung und Verifizierung. Um die Objektivität der Definition zu gewährleisten, muss die Erscheinung nicht nach einer Auffassung, sondern nach ihren Eigentümlichkeiten zum Ausdruck gebracht werden. Die Definition muss alle Eigenschaften umfassen, offensichtliche und verborgene, wobei den letzteren ein höherer Wert beigemessen wird, sie aber nicht sofort erkannt werden können. "Immer ist zum Gegenstand der Untersuchung eine Gruppe von Erscheinungen zu wählen, die zuvor durch gewisse äußere Merkmale definiert worden ist; in die gleiche Untersuchung sind alle Erscheinungen einzuschliessen, die der Definition entsprechen."

    (Gruppe "sui generis") Beispiele: Definition für Verbrechen: "jede mit Strafe belegte Handlung", für Familie "Gruppe von Blutsverwandten...

    Das Verfahren hängt bei solcher Klassifikation nicht vom Soziologen, sondern von der Natur der Dinge ab. Die Behauptungen sind überprüfbar. (objektiv).

    Der so gebildete Begriff wird sich nicht immer mit der allgemeinen Anschauung decken (z.B. werden bestimmte Rechtsverstöße, obwohl mit Strafe belegt, nicht als Verbrechen angesehen ["Kavaliersdelkt"]).

    Möglicherweise könnte hierzu eingewandt werden, man wolle das Verbrechen aus der Strafe ableiten, da man es durch diese definiere ("...im Schafott die Quelle der Schande..."). Da aber die Definition am Anfang steht, kann sie nicht darauf abzielen, das Wesen einer Realität auszudrücken; vielmehr soll sie dazu befähigen, später dorthin zu gelangen.

    Obwohl an sich zu vermeiden sind Vulgärbegriffe als Wegweiser von Nutzen, sie zeigen: Wo muss man suchen?

    Gefahren, die die Verwendung von Vulgärbegriffen mit sich bringt, sind zum einen:

    Zweideutigkeit,; so ist zum Beispiel der Begriff Monogamie zu differenzieren in faktische (Polygamie erlaubt, aber nicht praktiziert) und rechtliche (Polygamie nicht erlaubt).

    und zum anderen:

    Übergenaue Definition, bei der statt alle Erscheinungen einzubeziehen, selektiv verfahren wird, was zu subjektiver und verstümmelter Anschauung führt. Beispiel: Wenn unter dem Begriff Verbrechen, nicht auch überkommene oder exotische Vorstellungen subsummiert werden.

    Die äußeren Merkmale einer Erscheinung bilden auf jeden Fall das erste Glied der Kette zu "des Pudels Kern" da ja aufgrund der postulierten Gültigkeit des Kausalitätsprinzips Innen und Außen notwendig miteinander verknüpft sein müssen.

    6. Zusammenfassung:

    "Wissenschaft soll, um objektiv zu sein, nicht von Begriffen ausgehen, die ohne ihr Zutun gebildet wurden, sondern die Elemente ihrer grundlegenden Definition unmittelbar dem sinnlich Gegebenen entnehmen."
      1. Es werden Begriffe, die die Dinge adäquat zum Ausdruck bringen, benötigt
      2. Sinnliche Gegebenheiten, die die Gefahr der Subjektivität aufkommen lassen, sind nach Möglichkeit auszuschließen.
      3. Soziale Tatbestände sind umso besser erfassbar, als sie von den individuellen Handlungen, durch die sie sich offenbaren, losgelöst werden.
      4. Wahrnehmung ist umso objektiver, je starrer der beobachtete Gegenstand , denn "Bedingung aller Objektivität ist das Vorhandensein eines dauernden und gleichbleibenden Zielpunktes, auf den die Vorstellung bezogen werden kann und der alles veränderliche, also Subjektive, auszuschliessen gestattet."
      5. Sind uns schwankende Zielpunkte gegeben, selbst variierend und in wechselnder Beziehung zueinander stehend, so fehlt jedes gemeinsame Maß und uns das Mittel, zu unterscheiden, was in der Wahrnehmung von uns und was von der Außenwelt stammt. Gerade dieses Schwanken aber ist eine Eigentümlichkeit des sozialen Lebens.
      6. Eine andere Eigentümlichkeit aber ist, dass es (das soziale Leben) in rechtlichen und sittlichen Normen, Sprichwörtern und Tatsachen der sozialen Struktur usw. gleichsam kristallisiert. Diese Formen der Permanenz existieren, ohne sich mit ihrer Anwendung zu ändern und stellen dadurch einen fixen Gegenstand dar, der dem Betrachter stets zur Verfügung steht und keinen Raum für subjektive Empfindungen und Beobachtungsfehler lässt. Eine Rechtsnorm z.B. ist, was sie ist, ohne dass man sie in unterschiedlicher Art auffassen könnte. Da Einrichtungen dieser Art gleichermassen "konsolidiertes Leben" sind, scheint es weitgehend gerechtfertigt, dieses vermittels seiner Einrichtungen zu erforschen.


    7. Zur Diskussion

    Im Vorhergehenden habe ich mich bemüht, die wesentlichen Aussagen Durkheims im zweiten Kapitel des Buches so kompakt und klar wie möglich darzustellen und kann nur hoffen, nichts wesentliches übersehen zu haben.

    Alles in Allem kann man wohl feststellen, dass Durkheim eine strikt induktive Vorgehensweise und die Ansicht, dass deren Ergebnisse verifizierbar seien vertritt. Durch die Behandlung sozialer Tatbestände als "Dinge" und davon ausgehend, dass diese als Naturtatsachen Naturgesetzen unterliegen müssten glaubt er, zu Ergebnissen von naturwissenschaftlicher Exaktheit gelangen zu können.

    7.1 Fragen:

    Welche soziologischen Tatbestände lassen sich im Internet feststellen?

    Ist die sogenannte "Nettiquette" als ein solcher zu betrachten?

    Beispiel: Verhaltensregeln für Newsgroups (englisch)
     

    7.2 Antithesen:

    7.2.1 David Hume (1711 - 1776):

    Das Induktionsproblem: Induktion ist logisch nicht zulässig, wird aber dennoch erfolgreich praktiziert. (Basiert auf der Feststellung, dass von allem Gegebenen auch dessen Gegenteil widerspruchsfrei gedacht werden könne)

    7.2.2 Karl Popper (1902-1994):

    Es gibt überhaupt keine Induktion, sondern nur "trial und error". und: Empirische Tatsachen können nie die Wahrheit einer Theorie bestätigen, aber eine Theorie kann an empirischen Tatsachen scheitern.

    Popper schlug in seinem Hauptwerk "Logik der Forschung" (1934) folgendes Abgrenzungskriterium zwischen den Sätzen der empirischen und denen anderer Wissenschaften vor: Ein Satz ist genau dann ein Satz einer empirischen Wissenschaft, wenn er falsifizierbar, d.h. als falsch nachweisbar, ist.

    7.2.3 Friedrich Nietzsche (1844 - 1900):

    "Die Erfindung der Gesetze der Zahlen ist auf Grund des schon herrschenden Irrtums gemacht, daß es mehrere gleiche Dinge gebe (aber tatsächlich gibt es nichts Gleiches), mindestens, daß es Dinge gebe, (aber es gibt kein "Ding"). Die Annahme der Vielheit setzt schon immer voraus, daß es "etwas" gebe, was vielfach vorkommt: aber gerade hier schon waltet der Irrtum, schon da fingieren wir Wesen, Einheiten, die es nicht gibt."

    Interessierte können sich den gesamten Text Nietzsches, sowie den ihm verwandten "Über Lüge und Wahrheit im außermoralischen Sinn" (insges.12 Seiten) hier downloaden.


    Fußnoten

    1) Francis Bacon( 1561-1626) auch "Frans von Verulam", Engländer, Politiker, Philosoph und Schriftsteller. Von ihm stammt der Ausspruch "Knowledge is power.". Einer der Begründer systematischer wissenschaftlicher Forschungsmethoden. Empiriker, der in seinem Werk "Novum Organon" die induktive Methode propagierte: systematische Beobachtung (Experiment), aufstellen eines allgemeinen Satzes aufgrund festgestellter Übereinstimmung aller beobachteten Einzelfälle, wiederholtes Experiment usw.. Außerdem entwickelte er die sogenannte Idolenlehre, die sich mit, aus der (unzulänglichen) menschlichen Wahrnehmung, sowie aus Vorurteilen resultierenden Fehlern und aus diesen entstehenden Fehlurteilen auseinandersetzt.
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    2) Rene Descartes(1596-1650) auch "Cartesius". Franzose, bekanntester Ausspruch: "Cogito ergo sum" Stellte den Zweifel an den Anfang aller wissenschaftlichen Tätigkeit, propagierte analytisch-deduktive Methode. Das Objekt der Untersuchung ist, soweit es irgend geht zu zerlegen und sodann ausgehend vom kleinsten gefundenen Bestandteil eine allgemeine These zu entwickeln.
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    3) Ich lasse die Ausrufezeichen hier mal stehen, denn ich bin keineswegs, der von Herrn G. geäußerten Ansicht, es sei nichts Verwunderliches an dieser Einordnung der Soziologie durch Durkheim, denn zu seiner Zeit bestand durchaus eine klare Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Als Beispiele für letztgenannte seien angeführt: Geschichte und Philologie. Als wesentliches Unterscheidungsmerkmal dürfte wohl gelten, dass es in den Naturwissenschaften Gesetze gibt, die außerhalb unserer Einflussmöglichkeiten bestehen. So können wir nichts daran ändern, dass die Winkelsumme eines Dreiecks 180°, oder die Lichtgeschwindigkeit eine konstante Grösse ist. Wohl aber haben wir Einfluss auf die Entwicklung von Sprache oder Geschichte. Man darf also davon ausgehen, dass Herr Durkheim irgendwo in der Soziologie ein Naturgesetz vermutete. Wenn es denn eines gibt, dann meiner Meinung nach das folgende: Wo immer ein Mensch in eine Beziehung zu einem anderen tritt, entstehen Rechte und Regeln.
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    4) Vor-Urteile
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    5) Na - was hab ich gesagt? =:)))
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